Sagen aus Heiterwang

Das Blumengebet des Geißhirten

In Heiterwang lebte vor langer Zeit ein armer Geißhirt, der mit den ihm anvertrauten Tieren durch die Gegend zog. Er war ein guter und frommer Mann und so oft er eine Kirche oder eine Kapelle sah, zog er ehrfürchtig seinen abgeschabten Hirtenhut und begann ein einfaches Vaterunser zu beten.

Dabei hatte er aber eine ganz eigene, wundersame Art: Er zog die frischen Wiesenblumen aus dem Hutband, die gewöhnlich zum Schmuck dort steckten, und warf sie in den offenen Hut. Dann betete der Geißhirt in den Hut hinein seine Vaterunser, wobei sich die schönen Blumen vermehrten, bis die ganze Höhlung mit duftenden Blüten gefüllt war.
Stets beendete der Hirt sein Gebet mit den schlichten Worten: „… und das da ist für das ganze himmlische G’schwader. Amen!“ Damit leerte er seinen Hut vor der Schwelle des geweihten Ortes aus. Dabei sah der Geißhirt, wie sich die armen Seelen beinahe um die kostbare Blumengabe rauften, bis jede von ihnen eine kleine Blüte erhaschen und glücklich davonschweben konnte.

So hielt es der Hirt eine lange Zeit. Doch einmal bemerkte ein Pfarrer sein Tun und nahm den Geißhirten beiseite: „Was du da treibst, scheint mir nicht ganz recht!“, meinte der hoch gelehrte Herr streng. „Es gibt auch viel schönere und vornehmere Gebete, die unseren lieben Herrn im Himmel erfreuen!“

Der arme Geißhirt lernte folgsam das neue Gebet und sprach es am nächsten Tag auf seine gewohnte Art in den Hut hinein. Aber er konnte das Gebet wiederholen, sooft er nur wollte: Das schöne Blumenwunder blieb aus.
Da dachte sich der Hirt seinen Tell und kehrte heimlich zu seinem schlichten Vaterunser zurück, das so wunderbare Blumen schuf und den armen Seelen und seinem eigenen Herz so viel Frieden brachte.

Quelle: Tiroler Sagen, (Weninger 2018: 91f.)

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