Auf einer Alm im Stanzertal oberhalb von Pettneu lebte vor langer Zeit ein fauler Hirte. Er lag viel lieber im weichen Gras und schaute den Wolken nach, anstatt zu arbeiten und das Vieh zu hirten. Deshalb fasste der Hirte auch einen unbändigen Hass gegen eine bestimmte Kuh. Immer wieder stieg sie weit von der Herde entfernt im Felsgelände herum, sodass er sie oft lange suchen musste.
„Na warte, du Luderviech“, murmelte er grimmig, „mich tratzest du nimmer lang!“
In seinem Groll kam der Hirte auf den Gedanken, die Kuh abstürzen zu lassen. Mit diebischer Freude befestigte er schlüpfrige Baumrinde auf dem schmalen Steig, den das Tier für gewöhnlich benützte.
Schon am nächsten Tag trat die Kuh auf die tückisch glatte Rinde, rutschte aus und kollerte laut muhend in die Tiefe, wo sie mit zerschmetterten Knochen liegen blieb.
Der Hirt, der alles gesehen hatte, lachte aus vollem Hals: „Ha, ha, ha! Jetzt schau, du Beschti, wie du wieder auffikimmst!“
Aber der faule Hirt konnte sich nicht lange über den Tod der verhassten Kuh freuen, denn bald nach dem Almabtrieb wurde er schwer krank und starb.
Einige Wochen nach seinem Begräbnis kamen ein paar Jäger ins Gebirge. Weil es schon Spätherbst war und früh dunkel wurde, bereiteten sie sich in der verlassenen Almhütte ein Nachtlager. Gerade als sich die Männer mit ihren Schlafdecken ins Heu legen wollten, hörten sie von draußen ein schreckliches Ächzen, Jammern und Poltern.
„Wer oder was ist das?“, fragten sie sich erschrocken. „Vielleicht ist ein Jäger oder ein Wurzelgräber verunglückt“, vermutete einer. „Wir müssen nachschauen, ob wir helfen können!“
Die Jäger schlüpften in ihre Stiefel und rannten hinaus. Dort erkannten sie im hellen Mondschein den faulen Hirten, den man doch eben erst begraben hatte.
Unter unsäglichen Mühen, schluchzend und schnaufend, schleppte der Mann eine tote Kuh bergaufwärts. Doch kaum hatte er den tückischen Steig erreicht, stieß er den Tierkadaver in die Tiefe und schaute ihm wild auflachend nach.
Danach rannte der Geist wieder in die Schlucht hinunter, um sein schauriges Werk von neuem zu beginnen. Diese schwere Strafe war ihm für seinen Frevel auferlegt worden. In einem anderen Jahr hielt sich ein alter Enzianbrenner in der Gegend auf
Der Mann war gerade mit dem Sortieren und Putzen der Enzianwurzeln beschäftigt, als plötzlich der totenblasse Kuhtragerputz vor ihm stand.
Der Brenner war ein grundgütiger und frommer Mann, der sich vor niemandem zu fürchten brauchte. Daher sagte er nur mitleidig: „Griaß di. Wie geht’s dir? Musst viel leiden?“
Da hob der Putz einen faustgroßen Stein vom Boden auf, der in seiner bleichen Hand erst rot zu glühen und schließlich zu tropfen begann. Dazu sagte er: „Genau so geht’s mir. Und daran ist nix zu ändern.“
„Kann i irgendwas tun, um dich zu erlösen?“, wollte der alte Enzianbrenner wissen.
Aber der Putz schüttelte traurig den Kopf. „Naa. Jedes Mal, wenn ich die Kuh auf den Berg trag, büße ich einen Groschen von ihrem Wert ab. Und erst wenn sie ganz abgezahlt ist, darf i mi niederlegen und rasten.“ Mit diesen Worten verschwand er.
Man hat den Putz noch oft mit seiner schweren Last auf den Berg steigen sehen, aber ob er auch heute noch umgeht, ist nicht bekannt.
Quelle: Tiroler Sagen, (Weninger 2018: 101 f.)