Wie sich das Leben von Ziegenhirten („Goaßbuben“) in vergangenen Jahren in unseren alpinen Almregionen abgespielt hat, weiß Tiroler Autor, Bibliothekar und promovierte Geschichtsexperte Georg Jäger aus dem Sellraintal. Der Textauszug stammt aus seinem Buch „Männer und Buben bei der Arbeit“ aus der Reihe „Vergessene Zeugen des Alpenraumes“, erschienen 2019 im Kral Verlag (S. 174 – 176).
Ein Goashirt aus St. Jakob in Defereggen erzählt
Alfred Gasser hält unter dem Titel „Mein Sommer mit Ziegen! Ein Goashirt aus St. Jakob in Defereggen erzählt“ in den „Tiroler Heimatblättern“ (86. Jg., Heft 1, Innsbruck 2011, S. 24–25) im Jahr 2011 folgende Kindheitserinnerungen fest.
„Der Sommer 1938 – ich war 12 – begann Ende Mai an einem Morgen am Sammelplatz im Ortsteil Lacke meiner Heimatgemeinde St. Jakob im Defreggen: 11 Goasbauern brachten 48 Ziegen und einen Bock. Die einzelnen Bauern waren mit Vulgo-Namen Folgende – erstens der ,Jargl‘, also wir selber, dann der ,Pfunderer‘, der ,Enderhäusler‘, der ,Langmaiger‘, der ,Lackschuster‘, der ,Binterschneider‘, die ,Pufferin‘, der ,Graf ‘ (er hatte am meisten und auch den Bock), weiters ,Niggles‘, ,Gundlers‘ und ,Viktisn‘.
Treffpunkt und Abmarsch waren täglich um 7 Uhr in der Früh. Die Ankunft in der Lacke war um 18 Uhr abends, wo die Ziegen von den Besitzern wieder abgeholt wurden. Der Ziegenhirte im Jahr vor mir, also 1937, war ,Lackschusters Polt‘ (Leopold Steiner, geb. 1922). Der Goashirt nach mir war 1939 mein Bruder Hans (geb. 1927, gest. 2005).“
„Ich war bewaffnet mit einem langen Stock und trug am Buckel den Jausenrucksack. Es war das Jahr, als im März aus Österreich die Ostmark wurde. Ich durfte vorzeitig die Volksschule verlassen, denn es gab damals folgende Regelung: Bauernkinder ab 12 konnten zum Arbeiten oder Viehhüten ab Ende Mai von der Schule freigestellt werden, vorausgesetzt die Leistung in der Schule stimmte! Obwohl ich mit Haustieren umgehen konnte, überforderte mich die Größe dieser Herde doch, sodass mir Maiger Christl – vulgo der ,lange Maiger‘ – anbot, mich ein Stück des Weges zu begleiten.
Was nun vor mir lag, war eine 1000 Höhenmeter weite Hirtenwanderung – und das alle Tage einen ganzen Sommer lang. Verpflegt wurde ich von den Goasbauern immer so viele Tage, so viele Ziegen pro Bauer in der Herde waren.“
„Nun ging die ganze Schar los, angeführt von den älteren Tieren, und der ,lange Maiger‘ und ich brauchten nur zu folgen. Während des langen Schrägaufstieges durch den Wald gab mir Christl immer wieder gute Ratschläge für meine zukünftige Aufgabe. Er betonte andauernd, was eine Herde Goas für eine unfolgsame Bande sein kann!
Nach etwa einer Stunde beim Breitlaner angekommen, wünschte mir mein Begleiter viel Glück und ging zurück nach Hause. Der Breitlaner ist eine fast baumlose, zum Teil 100 m breite Schneise von der Hochwaldgrenze bis ins Tal. Lawinen, die in schneereichen Wintern hier oft abgingen, ließen nie das Aufkommen eines schützenden Waldes zu! Daher der Name Breitlaner.“
„Meine Herde zog nun – wie von freudiger Erwartung beseelt – steil bergwärts Richtung Wetterkreuz. Die älteren Tiere wussten ja, dass die guten Weiden erst über der Waldgrenze beginnen! Nun war meine Herde in den Hängen unterhalb der Langschneidspitze in ihrem eigentlichen Weidegebiet angekommen. In vielen Mulden lag noch zusammengerutschter harter Schnee, der mir zum Zeitvertreib für manche Rutschpartie diente. Mit meinem Stock unterm Hintern war das ein Mordsvergnügen!
Ganz ohne Probleme kam ich am Abend vollzählig nach Hause. Weil ich keine Uhr hatte, zeigte mir mein Vater, wie ich vor allem bei schönem Wetter die Zeit feststellen konnte. Und nach einiger Zeit bekam ich von meinen Ziegen diesbezüglich Hilfestellung. Immer zwischen 2 und 3 Uhr begannen sie wieder heimwärts zu ziehen!“
„Es lief nicht immer alles glatt! Als ich dann beim ,Grafenbauer‘ in Verpflegung war, bekam ich die feste Kost mit. Und zum Trinken sollte ich einfach eine seiner Ziegen melken. Kein Problem für mich! Bei der Rückkehr nach Hause, als die Ziegen wieder zu ihren Häusern gingen, bemerkte ich, dass ich die falsche Ziege gemolken hatte, und zwar ausgerechnet die einzige der ,Puffer Ursche‘. Ursche war zwar eine herzensgute Frau, aber sie war auch als Schandmaul bekannt. Sie schimpfte nicht mit mir, als ich es ihr gestand. Schimpf bekam ich tags darauf zu Hause, weil Ursche es überall erzählt hatte.
Je weiter der Sommer fortschritt, desto besser wurde die Harmonie zwischen den Ziegen und mir. Meine Herde war ja auch schön zum Anschauen. Es gab damals nur gehörnte Ziegen. Und es war ein richtig bunter Haufen! Und aus jedem Stall war eine Ziege mit einem Glöckchen dabei.“
„Es gab aber auch schlimme Erlebnisse: An einem heißen Tag hatte ich das Gefühl, als wollten die Ziegen vom Wetterkreuz nicht recht nach oben ziehen. Gewitterstimmung mit dunklen Wolken zog auf. Als dann ein Blitz in den Berg fuhr, war das wie der Startschuss für die ganze Herde, mit großem Tempo abwärts Richtung Hochwald zu laufen! Ich hinterher. Und nach kurzer Strecke sah ich keine Ziege mehr. Dann brach ein furchtbarer Hagelsturm los, Blitze rundherum. Ich lief ein Stück in den Wald und duckte mich unter eine große Fichte. Keine Ziege weit und breit!
Als der Hagel in Regen überging, wurde es ruhiger, und dann hörte ich leises Glöckchengeklimper, aber zu meiner Überraschung von dort, wo ich während des Hagels vorbeilief. Die Tiere hatten die obersten Bäume als Schutz genommen. Allerdings musste ich feststellen, dass mir etwa ein Drittel der Ziegen fehlte! Das war ein schlimmer Nachmittag für mich, denn ich fand die fehlenden Ziegen nicht!
Ganz bange war mir auf dem Heimweg mit meiner viel zu kleinen Herde. Als ich in die Nähe des Sammelplatzes kam, wollte ich gerade wieder hinauf zum Suchen gehen, als ich weit oben die Verlorenen kommen sah. Aber sie kamen aus einer ganz anderen Richtung – von der Bruggeralm! Das Gewitter hatte sie dort weithin versprengt. Aber die alten Tiere wussten wohl auch von dort, wo sie zu Hause sind!“
Den Tipp zum Buch „Männer und Buben bei der Arbeit“ aus der Reihe „Vergessene Zeugen des Alpenraumes“ (Kral Verlag) hier nachlesen.
Quelle:
Autor Georg Jäger
Verlag Kral, Berndorf
Erschienen 2019 (2. Auflage)
192 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 978-3-99024-827-0
Kontaktdaten:
Kral GmbH Buchhandlung
Hernsteiner Straße 3/1
2560 Berndorf
buch@kral-berndorf.at
www.kral-buch.at
Bildrechte: Kral Verlag / Georg Jäger
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