Matthias Gauly: Ein Blick auf den Wolf durch die volks- und betriebswirtschaftliche Brille

…Die Rückkehr der Großraubtiere wirft viele, oft emotional aufgeladene Fragen auf. Matthias Gauly, Vorsitzender der tierwissenschaftlichen Arbeitsgruppe an der Universität Bozen, plädiert in einem nüchternen Blick auf vorliegende Zahlen für eine Versachlichung der Debatte.

Die Rückkehr der Großraubtiere wirft viele Fragen auf. Diese Fragen sind Gegenstand oft hoch emotional geführter Debatten. Kann der nüchterne Blick auf vorliegende Zahlen einer Versachlichung der Debatte dienen? Matthias Gauly, Tiermediziner und Agrarwissenschaftler, Vorsitzender der tierwissenschaftlichen Arbeitsgruppe an der Fakultät für Agrar-, Lebensmittel und Umweltwissenschaften an der Freien Universität Bozen im Gespräch mit unserem Almfuchs.

Warum sprechen Sie sich dafür aus, die so emotional geführte Wolfs-Debatte mit etwas Abstand nüchterner zu analysieren?
Matthias Gauly: Emotionen sind in Debatten grundsätzlich etwas Positives, muss es auch geben, aber sie dürfen nicht den Blick auf die Realitäten verdecken. Deswegen muss man manchmal einen Schritt zurückgehen, ein bisschen Emotion rausnehmen und nüchtern alle Seiten analysieren.

Dann könnte sich jemand, der sich vehement für Wolf und Großraubwild einsetzt, die Frage gefallen lassen, was er denn zur Regulierung von Wild in anderen Bereichen sagt. Das ist ja weitgehend unbestrittene Praxis. Und zwar aus Umweltschutz bzw. Naturschutzgründen. Da fallen in einigen Ländern auch streng geschützte Arten wie der Steinbock darunter. Das führt zur nächsten Frage, warum man sich dann so schwertut, eine ähnliche Regulierung mit derselben Begründung (Naturschutz, Anm.) bei Wolf oder Bär zuzulassen.

Und weiter könnte man sich fragen, was bewegt eigentlich einen Landwirt, das heißt denjenigen, der ja selbst direkt betroffen ist, beim Thema Großraubwild. Warum hat er Tiere und warum gibt er die Haltung auf? Ich denke, wenn man das mal nüchterner analysiert, dann kommt man auf beiden Seiten möglicherweise zu anderen Einblicken und Schlussfolgerungen.

Wir sehen aber auch, dass es auf beiden Seiten der Debatte Gruppen gibt, die sich grundsätzlich Vernunftargumenten verschließen. Das sind aber Minderheiten. Deswegen tut es mir auch leid, wenn häufig allgemein von den Tierschützern oder den Wolfsgegnern insgesamt gesprochen wird. Da sind nämlich viele durchaus zugänglich für Vernunftargumente. Nur die Minderheitengruppen sind meistens die Lautesten. Und die machen uns tatsächlich die Debatte in der Realität schwer.

Sie haben die Motivation der Almbauern eine Alm zu bewirtschaften, angesprochen. Können Sie diese Motive etwas ausführen?
Matthias Gauly: Es sind im Wesentlichen zwei Grundmotive. Einerseits ist eine große Motivation und Verpflichtung da, das zu erhalten, was man von den vorherigen Generationen geerbt hat, also das Kulturgut und die Landschaft zu erhalten. Da fühlen sich viele schon durch das Erbe verpflichtet, Arbeit einzubringen. Dadurch bringt die Arbeit sicher auch eine gewisse Befriedigung.

Das zweite ist natürlich der wirtschaftliche Aspekt im engeren Sinn. Also die Nutzung der Flächen zur Erzielung eines Gewinnes. Wobei der Gewinn nicht real ist, weil Vollkosten in der Regel nicht gerechnet werden. Wenn ich den rein ökonomischen Aspekt in den Vordergrund stelle, dann sind alle Formen von Mehraufwendungen sofort extrem belastend für das System und müssen rein nüchtern betrachtet dazu führen, dass ich es aufgebe. Aber da ist eben die zweite große Motivation noch die Kulturlandschaft zu erhalten und so zu bewirtschaften, wie das die Vorfahren getan haben.

Welche Almen trifft der Faktor Wolf ökonomisch am meisten aus Ihrer Sicht?
Matthias Gauly: Milchviehalmen, die Käse produzieren, sind vielleicht etwas weniger betroffen, weil ich die Tiere eher schützen kann. Dazu kommt, wenn die gut bewirtschaftet sind, ein deutlich höherer ökonomischer Output als bei den extensiven Formen. Das sind vor allem Schaf- und Ziegenalmen, dann zum Teil Jungviehalmen, oder solche, die auch mit Pferden bewirtschaftet werden. Da wird es kritisch. Vor allem beim kleinen Wiederkäuer, da die Gewinnspanne extrem gering ist. Alle zusätzlichen Aufwendungen führen da sehr schnell an die Grenze. Ökonomisch gesehen, aber auch emotional. Tierverluste spielen eine wichtige Rolle, was Emotionen angeht. Und deswegen sind sie aus meiner Sicht die, die als erste tatsächlich aus der Nutzung aussteigen.

Sie erwähnen neben der ökonomischen die gefühlsmäßige Ebene. Mit welchen Gefühlen ist ein Schafhalter, eine Hirtin konfrontiert, wenn die Bedrohung durch den Wolf manifest wird?
Matthias Gauly: Das können viele gar nicht verstehen, wenn es um jemanden geht, der Tiere hält, die er letztlich irgendwann zur Schlachtung bringt. Oder jemand, der auch sonst mit natürlichem Verlust umgehen muss. Beides ist etwas, womit er leben muss, woran er sich gewöhnt hat. Jetzt ist der Tierhalter zusätzlich konfrontiert mit Verlusten durch Risse von Großraubtieren. Wo ist der Unterschied, fragen sich da viele.

Ich glaube jeder, der ein Tier hat, ob das nun ein Heimtier oder ein Nutztier ist, kann leicht nachempfinden, was es bedeutet, wenn man Tiere leiden sieht und vor allem das Gefühl hat, ich kann das Tier nicht schützen. Ein eigenes Tier, das man leiden sieht, zum Beispiel weil es schwer verletzt ist aufgrund einer Großraubwildattacke, wird selbstverständlich immer diese Gefühle bei einem Tierhalter auslösen. Es ist ja niemand stumpf, ein Tier leiden zu sehen, das löst bei normalen Menschen natürlich Emotionen aus.

Diese Emotionen werden besonders groß, wenn die Regulierung so aussichtslos scheint. Viele sehen keine Zukunftsperspektiven.  In der Diskussion macht nicht wirklich jemand ein vernünftiges Angebot, wie die Tiere unter den häufig vorhandenen Bedingungen unserer Almen geschützt werden können. Das führt zur Verzweiflung und erklärt manchmal die extreme Reaktion, dass Großraubwild grundsätzlich abgelehnt wird.

Um Risse zu vermeiden, bräuchte es effektiven Herdenschutz. Jetzt haben Sie gesagt, es gebe „kein vernünftiges Angebot“ die Tiere auf der Alm zu schützen. Können Sie das ausführen?
Matthias Gauly: Ein Herdenschutz ist in vielen Teilen der Regionen, über die wir hier sprechen, kaum möglich und damit fängt das Problem schon mal an. Die Gründe dafür sind nicht nur ökonomischer Natur. Es kommen Argumente aus der Umwelt- und Naturschutzperspektive hinzu. Das ist ein Punkt, der häufig vergessen wird. Eine Einzäunung beispielsweise bedeutet, dass ich auch anderen Wildtieren bestimmte Möglichkeiten und Lebensräume verschließe. Und da rede ich nicht nur von großen Tieren, sondern ich rede auch von Amphibien oder Reptilien. Das, glaube ich, sollte jeder Tierfreund mit im Auge haben, dass großraubwildsichere Einzäunung (und ein 100% Schutz ist nie möglich) einen massiven Eingriff in die Natur darstellen.

Wenn großräumige Zäune auf unseren Almen keine praktikablen Formen des Herdenschutzes sind, sind es dann mobile Zäune für Nachtpferche, Herdenschutzhunde und Behirtung?
Matthias Gauly: Ein Schutzhund funktioniert nur in einer Herde, die er kennt und die stabil ist. Bei uns (Südtirol, ähnlich in weiten Teilen Österreichs, Anm.) werden die Herden von 20-30 Landwirten bei Gruppengrößen der einzelnen Herden von 10 bis 20 Tieren gestellt. Das heißt mit Schutzhunden funktioniert das gar nicht. Also: bei unseren Strukturen, bei unseren Herdengrößen können Herdenschutzhunde gar keinen Schutz basierend auf einer vernünftigen Ausbildung über die Winterperiode erbringen. Das geht einfach nicht. Da muss ich noch nicht einmal die Kostenfrage stellen. Oder Hirten: Wir hätten noch nicht mal Hirten, die entsprechend ausgebildet werden. Und da sind wir kostentechnisch ganz schnell am Limit. Weit weg von Ökonomie. Wir haben ja reelle Rahmenbedingungen, in denen wir uns bewegen müssen.

Jetzt argumentieren manche, dass sich dann eben diese Bedingungen ändern müssen. Also größere Herdenverbände, die es zum Teil ja auch schon gibt mit 500 Schafen aufwärts, außerdem Investitionen in die Hirten- und Herdenschutzhund-Ausbildung?
Matthias Gauly: Dann bräuchte es aber auch Ställe für 500 und mehr Schafe zum Beispiel. Unter der Annahme also, dass wir alle bestehenden Strukturen der Berglandwirtschaft aufgeben, gibt es tatsächlich Modellrechnungen für einen effektiven, flächendeckenden Herdenschutz. Diese kommen auf Aufwendungen von 500 Euro pro gealpter Großvieheinheit. Jetzt nehme ich mal Südtirol her, wo wir 40.000 Großvieheinheiten auf den Almen haben. Das heißt ca. 20 Millionen Euro nur für den Herdenschutz! Das ist übrigens in etwa das, womit wir im Moment die Berglandwirtschaft direkt fördern. 20 Millionen als Ziel für die Zukunft, damit wir in Südtirol vielleicht 100 Wölfe haben? Kleinbetriebe zu, Almen bleiben unbewirtschaftet? Eine Alternative zur Tierhaltung gibt es dort nicht. Eine mechanische Pflege als Alternative? Undenkbar.

Gibt es abgesehen von Modellen für mögliche zukünftige Szenarien offizielle Zahlen oder zumindest Schätzungen, wie viel der öffentlichen Hand ein Wolf heute schon pro Jahr kostet. Und wie setzen sich diese Kosten zusammen?
Matthias Gauly: Meines Wissens nach, gibt es in den meisten Ländern keine Schätzungen, weil auch die Kosten nicht ganz transparent kommuniziert werden und auch nicht ganz einfach zu ermitteln sind. Wir haben Kosten, die wir in die Aufklärung investieren, in Wolfsender, in Wolfsbeauftragte, Kosten, die die Prävention zeitigen usw. Wobei die Prävention, das heißt also das, was an Herdenschutz gefördert wird, noch den geringsten Anteil ausmacht. In Deutschland waren das beispielsweise 2020 annähernd 10 Millionen. Bei 1200 Wölfen waren das schon fast 10.000 Euro pro Wolf. Ich denke also, dass die von Kollegen in der Schweiz geschätzten jährlichen Kosten von 100.000 bis 150.000 Franken pro Wolf durchaus realistisch sind, rechnet man all die anderen genannten Punkte ein.

Was mir dabei wirklich zu denken gibt, ist der Umstand, dass wir für eine Art, die nicht bedroht ist, plötzlich so viel Geld haben und aufwenden, welches wir in anderen Bereichen des Naturschutzes aus meiner Sicht viel effizienter einsetzen könnten und momentan dort wegnehmen. Wenn wir diesen gleichen Betrag z.B. für den Schutz von Amphibien, für den Schutz von Insekten, hernehmen, würden im Natur- und Umweltschutz ganz andere Effekte erzielt. Dabei tut man so, als sei das Geld einfach da. In Wahrheit wird es irgendwo weggenommen und zwar aus anderen Bereichen des Natur- und Umweltschutzes. Und das schmerzt mich sowohl als Wissenschaftler als auch als Steuerzahler.

Vielen Dank für das Gespräch!

(c) Uni Bozen / Matthias Gauly

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