Jedes Jahr im Juni zieht eine riesige Schafherde mit hunderten, ja tausend Tieren von Schnals in Südtirol zu den Gurgler Almen im hintersten Ötztal. Dort fressen sich die Schafe drei Monate lang am würzigen Berggras rund und satt und werden im September von ihren Besitzern wieder abgeholt.
Vor langer Zeit einmal wanderten die Schnalser an einem herrlich warmen Herbsttag in Hemdsärmeln dahin, um ihre Schafe nach Hause zu holen. Da begegnete ihnen bei Obergurgl eine alte Hexe. Sie trug trotz des hellen Sonnenscheins dickwollene Gewänder und zitterte vor Kälte, dass ihre Zähne nur so klapperten.
Als sie die hemdsärmeligen Männer sah, blies sie sich fröstelnd in die dürren Hände und rief warnend: „O Mander – husch, husch!“
Die Schnalser lachten herzlich über die seltsame Gestalt, doch als sie am nächsten Tag ihre Herde über den Ferner zurücktrieben, gerieten sie in einen fürchterlichen Schneesturm.
In den erbarmungslosen eisigen Winden und dem dichten Schneetreiben erfroren dreizehnhundert Schafe und alle Schnalser, die den Viehtrieb begleitet hatten. Nur zwei Männer überlebten das schreckliche Unglück und konnten später die Geschichte von der Gurgler Hexe erzählen.
Quelle: Tiroler Sagen, (Weninger 2018: 66f.)